Mary Jane Kelly gibt uns bis heute viele Rätsel auf. Fast alles, was wir über sie wissen, beruht auf dem, was sie ihrem Lebensgefährten Joseph Barnett über sich erzählt hatte:
Sie war in Limerick in Irland geboren und im Jahr 1888 25 Jahre alt. Als sie noch sehr klein war, zog ihre Familie nach Wales, wo ihr Vater John Kelly eine Stelle als Vorarbeiter in einem Eisenwerk angetreten hatte. Sie hatte acht Geschwister, sieben Brüder, von denen sechs zu Hause lebten und einer in der Armee war, sowie eine Schwester, die als Markthändlerin ihren Lebensunterhalt verdiente. Mit 16 Jahren heiratete Mary Jane den Bergmann Davis oder Davies, der unglücklicherweise zwei oder drei Jahre später bei einer Explosion ums Leben kam.
Nach seinem Tod zog sie zu einer Cousine nach Cardiff, die nach ihren Worten “ein unmoralisches Leben” führte, in das sie Mary mit hineinzog. In der Folge ging Mary Jane nach London, wo sie in einem edlen Bordell im West End arbeitete. Dort lernte sie einen Gentleman kennen, der sie überredete, mit ihm nach Paris zu gehen. Vierzehn Tage später allerdings war sie wieder in London, da es ihr nach eigenen Angaben in Paris nicht gefallen hatte.
Sie ging allerdings nicht zurück ins West End, sondern lebte von nun an in unterschiedlichen Gegenden im Londoner East End, beispielsweise am Ratcliffe Highway, auf der Bethnal Green Road und der Pennington Street. Zu dieser Zeit soll Mary Jane angefangen haben, stark zu trinken. Zunächst lebte sie mit einem Mann namens Morganstone zusammen, später mit dem Verputzer Joseph Fleming, den sie besonders gern mochte.
Im April 1887 traf Mary Jane auf der Commercial Street Joseph Barnett, der auf dem Billingsgate Fish Market als Fischträger arbeitete. Nachdem sie zusammen etwas getrunken hatten, verabredeten sie sich für den folgenden Tag und nach diesem Treffen beschlossen sie, zusammenzubleiben. Barnett mietete eine Unterkunft in der George Street in Spitalfields, die sie nach kurzer Zeit wieder verließen. Sie zogen in die Little Paternoster Row, wurden dort aber wegen Trunkenheit und Mietrückstand rausgeworfen. Nachdem das Paar eine kurze Zeit auf der Brick Lane gewohnt hatte, bezog es im Frühjahr 1888 ein Zimmer in Miller’s Court 13 in der Dorset Street, das Mary Jane gemietet hatte. Die Zimmer in Miller’s Court wurden von John McCarthy vermietet. Die Miete betrug 4 Schilling und 6 Pence pro Woche. Da Joseph Barnett im Laufe des Jahres seinen Job auf dem Billingsgate Fish Market verloren hatte, sah Mary Jane sich gezwungen, Geld als Prostituierte zu verdienen. Trotzdem war das Paar im November mit 29 Schilling im Mietrückstand. John McCarthy gab später an, er habe geglaubt, die beiden seien verheiratet gewesen und er gab sich sehr überrascht, dass seine Räumlichkeiten für, wie er es nannte, „unmoralische Zwecke“ genutzt wurden. Dies erscheint unglaubwürdig, da die Dorset Street einen notorisch schlechten Ruf hatte, wie eine Zeitung später berichtete:
“In der Dorset Street wimmelt es von Frauen, deren Aussehen, Sprache und Verhalten so sind, dass der letzte Rest von Selbstachtung, falls davon noch etwas in Mary Jane Kelly vorhanden war, ausgereicht hätte, um sie von den noch tiefer Gefallenen ihrer Art zu unterscheiden. Dieser kurze Durchgang und die anschließende Paternoster Row, die direkt zum Spitalfields Gemüsemarkt führen, wurden nun Common Lodging Houses überlassen, für 4 oder 6 Pence die Nacht oder 6 Pence für eine Einzelbettnische, und für Frauen, die jede Spur von Weiblichkeit verloren haben. Die Straße und die Row sind Orte, von denen die Polizei behauptet, dass sie selbst bei Tag für respektable Personen nicht sicher sind und erst recht nicht bei Nacht. In so einer Nachbarschaft war es unmöglich, aufzusteigen, sondern unvermeidlich, tiefer zu fallen.”1
Da die Whitechapel-Morde ab August 1888 das East End erschütterten, war Mary Jane sich bewusst, dass sie sich in große Gefahr brachte, wenn sie ihren Lebensunterhalt auf der Straße verdiente. Mehrfach bat sie Joseph Barnett darum, ihr die Details der Morde aus der Zeitung vorzulesen.
Joseph Barnett war nicht damit einverstanden, dass Mary Jane sich prostituierte und die beiden gerieten häufig darüber in Streit. Daher verließ er Mary Jane am 30. Oktober. Gelegentlich fand er Arbeit und besuchte sie, um ihr Geld zu geben. Das letzte Mal sah er sie am 8. November in ihrem Zimmer in Miller’s Court. Da er an dem Tag nicht gearbeitet hatte, konnte er ihr kein Geld geben. Gegen 20 Uhr kehrte er in seine Unterkunft in Buller’s Lodging House in der New Street, Bishopsgate, zurück. Zur gleichen Zeit war eine Freundin namens Lizzie Albrook zu Besuch bei Mary Jane. Diese erzählte Journalisten später, was Mary Jane ihr zum Abschied gesagt hatte:
“Sie war das Leben, das sie führte, von Herzen leid und wünschte, sie hätte genug Geld, um zurück nach Irland zu gehen, wo ihre Familie lebte. Ich glaube nicht, dass sie hinausgegangen wäre, wenn sie dazu nicht gezwungen gewesen wäre, um sich selbst vor dem Verhungern zu retten.”2
Mehr zu Mary Jane Kelly in unserem Buch “Jack the Ripper – Die Whitechapel-Morde 1888: Eine Chronologie”: